Vom Saulus zum Paulus
Ich war früher ein totaler Remote-Skeptiker. Meinen Kunden habe ich erzählt, es wäre das Beste, Teams zu kolozieren, also gemeinsam am selben Ort arbeiten zu lassen, und verteiltes Arbeiten wäre ein Impediment, also ein Hindernis. Ich sagte das nicht, weil es so in der einschlägigen, klassischen Scrum-Literatur nachzulesen war, sondern weil ich es zwischen 2005 und 2015 mehrfach versucht und auch immer irgendwie hinbekommen hatte, aber die Teams oft mehr mit der Technik zu kämpfen hatten als mit den eigentlichen Herausforderungen der jeweiligen Projekte. Das war ineffizient und schlecht fürs Wir-Gefühl im Team, also riet ich den Kunden ab. Dieser Rat war auch lange Zeit richtig.
Dann kam 2020 die Pandemie, und alle arbeiteten zu 100% im Home Office. Ich hatte große Sorge, dass es zu Problemen in der agilen Arbeitsweise kommen würde, was am Ende auch auf mich als Agile Coach zurückgefallen wäre. Es gab auch Anlaufschwierigkeiten, weil Unternehmen und Mitarbeiter sowohl im remote-feindlichen Deutschland als auch an technik-affineren Standorten in Asien nicht darauf vorbereitet waren, remote und verteilt zu arbeiten. Die IT-Abteilungen hatten große Herausforderungen zu stemmen und Dinge nachzuholen, die schon Jahre zuvor schrittweise und weniger disruptiv hätten vorbereitet werden können. Aber überall waren die Anlaufprobleme schnell beseitigt, denn die Frage war zu dem Zeitpunkt nicht mehr, "erlauben wir Home Office?", sondern es ging darum, ob die Firmen überhaupt noch weiterlaufen würden oder nicht. Der lapidare Spruch, dass Diamanten unter Druck entstünden, hat sich in diesem Fall als wahr erwiesen.
Die Arbeit lief weiter, und sie lief sogar sehr gut. Die Agilität litt nicht am verteilten Arbeiten, auch der Teamzusammenhalt nicht. Viele Teammitglieder wirkten sogar motivierter und ausgeruhter.
Was war geschehen? Ganz einfach: Die Technologie war so weit (2005 oder 2015 war sie es noch nicht). Die Netzwerk-Bandbreiten und -Latenzen, die Software-Tools und die Hardware waren inzwischen gut genug, um problemlos 100% remote arbeiten zu können. VPN, Videotelefonie, Kollaborations-Software und papierloses Arbeiten mussten nur noch aus der Exoten-Nische heraus und zum Mainstream werden. Es ging gewissermaßen um eine digitale Alphabetisierungskampagne. Meine Kunden und deren Mitarbeiter bzw. ganze Wirtschaftszweige haben diese Herausforderung in bewundernswerter Weise gestemmt. Im gefühlt vierten Anlauf hatte Deutschland endlich in der Digitalisierung Rückstände aufgeholt gegenüber meinen Kunden in Asien. Dort wiederum war die Schwierigkeit weniger die Technologie als die Kultur des "management by command & control", weswegen man die Mitarbeiter nicht ohne den Druck der Pandemie von zu Hause aus hatte arbeiten lassen, obwohl es technisch längst möglich gewesen wäre.
Neue technische Möglichkeiten führten auch innerhalb kurzer Zeit zu weiteren positiven Entwicklungen, die ich nicht vorausgesehen hatte:
- Mitarbeiter, die zuvor trotz räumlicher Nähe E-Mails verschickt hatten, tauschten sich schneller und effizienter mit Kollegen aus per Chat oder Videotelefonat, Wartezeiten verkürzten sich.
- Viele Teammitglieder waren ausgeruhter und besser gelaunt, weil sie nicht zweimal täglich im Stau auf dem Weg zur Arbeit stehen mussten und die Brutto-Arbeitszeit nahe am Netto war. Nach Ende der Lockdowns, als man auch wieder etwas unternehmen und nicht nur zu Hause sein konnte, wurde auch die Work-Life Balance besser - übrigens auch bei mir, der ich es zuvor gewohnt war, mindestens fünf Tage die Woche irgendwo auf der Welt in Hotels zu schlafen, wo immer auch meine Kunden waren.
- Neue, standortübergreifende Teams wurden gebildet, die es vor der Pandemie nicht gegeben hätte, weil man das verteilte Arbeiten scheute.
- Es wurde mehr dokumentiert in Jira, Confluence & Co., weil Papiernotizen und Flipcharts remote nicht besonders nützlich waren.
Sie haben längst bemerkt: Ich habe mich inzwischen zum Remote-Befürworter gewandelt. Um es mit den Worten des früheren Tennis-Superstars Jimmy Connors aus einem alten Eistee-Werbespot zu sagen: "You hang around - you learn."
Rolle rückwärts nach Ende der Pandemie
Die Pandemie schwächte sich ab, meine Kunden luden Ihre Mitarbeiter und externen Berater wieder tageweise ins Büro ein. Viele freuten sich auch darauf, einander wiederzusehen oder sich überhaupt erstmals persönlich kennenzulernen. Das war auch schön, aber die Arbeit funktionierte an Bürotagen deutlich schlechter als online. Woran lag es? Das Problem waren neben vielen Ablenkungen im Büroalltag v.a. hybride Meetings. Irgendjemand war immer gerade nicht im Büro, z.B. einzelne Teammitglieder (arbeitsfähig, aber Corona-Infektion), Führungskräfte (unterwegs zum oder anwesend bei einem Workshop andernorts) oder Berater (auch ich), die zu weit weg wohnten, um für ein oder zwei Tage anzureisen. Oder die während der Pandemie gebildeten, zuvor problemlos 100% remote und verteilt arbeitenden, standortübergreifenden Teams trafen sich an zwei unterschiedlichen Standorten. Das Resultat waren in allen Fällen hybride Online-Meetings mit Leuten vor Ort in Büros und Einzelnen oder Gruppen woanders. Dort, wo die Mehrheit des Teams saß, wurde viel im Raum direkt geredet, andere fühlten sich abgehängt, oder es gab Probleme mit den Konferenzsystemen, irgendjemand hatte seinen Laptop am Schreibtisch gelassen und konnte im hybriden Meeting nicht mitlesen und -schreiben oder -abstimmen, das virtuelle Whiteboard in der Retrospektive nutzen und so weiter.
Viele Monate schlechter Erfahrungen mit hybriden Meetings haben mich davon überzeugt, dass effizientes Arbeiten im Team nur ganz oder gar nicht vor Ort funktioniert: Entweder sind alle immer und vollzählig im Büro oder 100% remote an ihren jeweiligen Standorten. Hybride Meetings sind purer Horror für mich, und alle in den Teams waren sich einig, dass sie nicht funktionieren. Es ist auch nicht einzusehen, weshalb bei hybriden Meetings dann jeder vor seinem Laptop im Konferenzraum sitzen soll, was aber notwendig wäre, damit alles reibunglos funktioniert, weil man in der Regel per Videokonferenz einander nicht nur anschauen sondern auch gemeinsam arbeiten und interagieren möchte. Ein Zurück zum Vollzeit-Büro wird es wohl nicht geben, aber Modelle wie "2+3" bedeuten ständige Hybrid-Meetings, ständige Umgewöhnung, das Hin- und Hertragen von Laptops, Probleme mit Docking Stations an immer wechselnden Schreibtischen - irgendein Adapter fehlt immer gerade oder eine Webcam geht nicht. Über geplante Obsoleszenz schimpfen wir, aber der Trend in den Führungsetagen einiger meiner Kunden geht gerade in Richtung geplanter Ineffizienz.
Fragt man Führungskräfte nach der Produktivität im Home Office - es gibt auch Untersuchungen und Umfragen dazu - sagen fast alle, dass sie sich nicht verschlechtert habe. Trotzdem wird der Kontrollwahn, welcher dem Wunsch, die Mitarbeiter vor Ort zu haben, meines Erachtens zugrunde liegt, kaschiert durch Argumente bzgl. Produktivität. Hier sehe ich eine Fehlentwicklung, welche die Firmen mit ihren Hybrid- oder Vor-Ort-Modellen teuer zu stehen kommen wird. Jene Produktivität, die gerettet oder verbessert werden soll, wird am Ende geopfert. Ganz ehrlich, jede Führungskraft weiß doch, welche Mitarbeiter mehr oder weniger produktiv sind, wer sich engagiert im Team und wer - egal ob vor Ort oder im Home Office - seine Arbeit wie zuverlässig erledigt. Beschäftigt wirken, ohne etwas zu tun, kann ich auch im Büro, dazu muss ich nicht im Home Office den Status auf "Abwesend" setzen.
Chancen der Remote-Arbeit
Nicht nur ich als Berater habe während und nach der Pandemie bemerkt, wie hilfreich es ist, mich remote mit verschiedenen Kunden verbinden zu können, die sonst hätten warten müssen. Ohne wie früher schnell mal von Berlin nach München, Hamburg oder Moskau zu fliegen/fahren, dabei meinen CO2-Fußabdruck in obszöne Höhen zu treiben und auch noch viel Zeit und Energie zu verlieren, konnte ich z.B. während des Lockdowns in Bangkok sowohl meinen Kunden vor Ort betreuen als auch punktuell meinen Bestandskunden in Deutschland Troubleshooting via Remote Scrum Clinic anbieten. Nach der Pandemie konnte ich umgekehrt einen Kunden in Deutschland mehrere Monate full remote weiter betreuen, als ich für ein Familienmitglied im Ausland mit schweren gesundheitlichen Problemen da sein wollte. Ansonsten hätten der Kunde keinen Agile Coach und ich keinen Kunden mehr gehabt. Oder ich hätte die Familie im Stich lassen müssen, um den Kunden nicht zu enttäuschen.
Ich erlebe Kunden, die zwar einerseits near-shore oder off-shore Lieferanten (z.B. in der Softwareentwicklung) beauftragen, was bestens funktioniert, sofern die Remote-Teams eng genug in Kontakt stehen mit dem Kunden, aber andererseits ihren Mitarbeitern oder Beratern nicht erlauben, dauerhaft remote zu arbeiten - höchstens mal 2 Wochen Workation innerhalb der EU. So werden Chancen verschenkt, trotz starken Wettbewerbs die besten Mitarbeiter zu finden innerhalb Deutschlands oder auch weltweit. Wieso muss mein Entwickler, Tester, Projektleiter, Agile Coach oder People Lead zufällig in der Nähe eines meiner Bürostandorte wohnen oder dorthin umziehen? Damit schränke ich mich doch als Arbeit- oder Auftraggeber nur unnötig bei der Suche ein. Zieht Rockstar-Entwicklerin X wirklich wegen eines Jobs nach A um, wenn sie mit Familie und Hund 500 oder 10.000 km entfernt ein Haus in B bewohnt? Sage ich dem externen Berater Y wirklich ab, weil mir sein Stundensatz all-in mit Reisekosten zu teuer ist und er für weniger nicht arbeiten kann, weil er ja Fahrt-, Hotel- und Verpflegungskosten zu stemmen hat?
Führungskräfte eines Kunden habe ich sagen hören, "wir wollen doch keine Firma aus Digitalen Nomaden sein", als ob das Wort Nomade einen Menschen zweiter Klasse beschriebe. Ich habe Menschen bei der Arbeit kennenlernen dürfen, die nie im Büro vor Ort, aber mit Herzblut engagiert waren und sich voll mit ihrem Arbeitgeber oder Auftraggeber identifizierten. Leider kenne ich auch viele Leute, die zwar täglich oder häufig im Büro sind, aber Dienst nach Vorschrift machen oder - schlimmer noch - innerlich gekündigt haben.
In eigener Sache: Remote Agile Coaching
Nach wie vor freue ich mich, mit Menschen im selben Raum zu sein, wenn ich mit ihnen arbeite. Anders als früher, halte ich es jedoch nicht mehr für zwingend notwendig. Viele Konstellationen, besonders wenn man das bestmögliche Team bilden möchte, sind im Vor-Ort-Modell auch gar nicht möglich. Deshalb habe ich mir vorgenommen, zukünftig die Digitalisierung und das verteilte Arbeiten nicht mehr als Hindernis sondern als große Chance zu begreifen, und mich auch selbst Kunden zugänglicher zu machen, die ich früher nicht angenommen hätte, weil sie zu weit weg waren und die Reisekosten nicht tragen wollten oder der Lieferumfang - z.B. ein paar Wochen oder Tage Coaching - zu gering war, um dafür einen Vollzeit-Auftrag auszuschlagen oder jeweils für einen Tag Beratung drei Tage frei nehmen zu müssen inkl. An- und Abreise. Es gibt auch Kunden, die gern einen Agile Coach längerfristig hätten, aber vielleicht nur 4 h/Tag statt 8. Vor Ort kann ich gar nicht so viel und so schnell hin und her fliegen/fahren, um zwei Kunden zu je 40% oder 50% zu betreuen. Remote geht das aber, obwohl es immer schöner ist, sich komplett auf einen einzigen Kunden fokussieren zu können.
Ich lade Sie ein, Scrum-Master.de und somit mich "on demand", also zugeschnitten auf Ihren individuellen Bedarf, zu beauftragen. Ich kann nicht versprechen, dass ich immer passend zeitliche Kapazitäten habe, aber wenn es remote und standortunabhängig, ggf. auch mal mit Zeitverschiebung, sein darf, ist die Wahrscheinlichkeit viel höher, dass ich auch für Sie da sein kann, weil ein großer Teil der Logistik entfällt. Selbstverständlich beauftragen Sie immer ein Unternehmen bzw. einen Freiberufler in Deutschland, das/der in D Steuern bezahlt, eine ladungsfähigke Adresse und eine deutsche USt-ID hat. Egal, ob Training, Coaching, Troubleshooting oder langfristig angelegte Organisationsentwicklung (Agile Transition) - ich biete alle Dienstleistungen auch remote an.
Mit herzlichen Grüßen. Ihr
Alexander Kriegisch
Agile / Lean Coach